Leon I. Hammer, MD
20. August 1924 – 10. Juli 2023
Ein Nachruf von Angelika-M. Findgott, Sybill Huessen und Scott Tower
Es war im Jahr 2010 als Leon in einer E-Mail an Angelika schrieb: „Ja, ich erinnere mich jetzt daran, dass Du Sybill und Scott vor ein paar Jahren in London getroffen hast. Ihr Drei seid ein großartiges Team.“
Und nun haben wir drei uns zusammengetan, um diesen Nachruf für Leon miteinander zu schreiben und somit unsere Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen.
Scott Tower
Einer der ganz Großen hat uns verlassen. Leon Hammer, MD, ist am 10. Juli 2023 verstorben, nur einen Monat vor seinem 99. Geburtstag.
1924 in New York geboren, besuchte Leon Hammer die Cornell University, das Cornell Medical College und das William A. White Institute und promovierte in Psychoanalyse und Psychiatrie. In den frühen 1970er Jahren begann er in England das Studium der Chinesischen Medizin bei Dr. J.D. van Buren und reiste später zur Fortsetzung dieses Studiums nach China. Über einen Zeitraum von 27 Jahren lernte er bei Dr. J.F. Shen. Insbesondere dessen Fähigkeiten und Kenntnisse der Pulsdiagnose, die international bekannt waren, faszinierten ihn. In seinem Bestreben, die Technik zu beherrschen, war er unermüdlich; einmal folgte er Dr. Shen sogar ins Kino, um Antworten auf seine Fragen zu bekommen.
In den frühen 1990er Jahren fing er an auszuprobieren, wie er die Inhalte von Dr. Shen weitergeben könnte und benutzte dabei eine kleine Gruppe von uns Kollegen als „Versuchskaninchen“. Dies entwickelte sich dann zu dem, was wir heute als Shen-Hammer Pulsdiagnose kennen. Es war mir eine Ehre, zusammen mit Sybill im Jahr 2001 damit zu starten, dieses bemerkenswerte Diagnosesystem nach Europa zu bringen, wo es mittlerweile
fester Bestandteil in einigen der führenden europäischen Schulen der chinesischen Medizin ist. Leon Hammers Vermächtnis ist umfassend, und die Welt der chinesischen Medizin verdankt ihm außerordentlich viel.
Sein vermutlich bekanntestes und am häufigsten übersetztes Buch Dragon Rises Red Bird Flies (1990) war ein wichtiger Beitrag für die chinesische Medizin und die Psychologie, genauso wie sein später erschienenes Buch The Patient-Practitioner Relationship. Er scheute sich nicht vor Auseinandersetzungen, z.B. bei seinen eindrucksvollen Schriften über die Spätfolgen nach dem Konsum von Cannabis. 2001, er war in seinen Siebzigern, gründete Leon das Dragon Rises College of Oriental Medicine in Florida, wo der ganze Umfang seiner Arbeit in den akkreditierten Lehrplan eingefügt wurde.
Er war ein begeisterter Umweltschützer und Naturfreund, der sich in seinem zweiten Zuhause, in den fern-abgeschiedenen Adirondack Mountains im Norden des US-Bundesstaates New York, am wohlsten fühlte.
Seine Arbeit war Leon Hammers Leidenschaft, und er hat bis vor einigen Wochen noch aktiv an drei neuen Büchern gearbeitet. Wie die meisten der wirklich großartigen Menschen auf dieser Welt, konnte er manchmal für die Menschen in seinem Umfeld und die, die ihm nahe standen, eine Herausforderung sein – und gleichzeitig eine Inspiration und ein guter Freund für so viele. Seit mehr als 30 Jahren war es für mich ein Segen, ihn gekannt und geliebt zu haben, manchmal mit ihm gerungen zu haben, diesen wunderbaren Mann, der mein Mentor war und mein Freund. Sein Vermächtnis lebt weiter, aber er wird sehr vermisst werden.
Sybill Huessen
Mitte der 1990er, nach dem Abschluss meines Studiums an einem der vier Colleges für Chinesische Medizin in der San Francisco Bay Area in Kalifornien, hatte ich das Glück von einem geschätzten und erfahrenen Kollegen zu einem 6-tägigen Einführungsseminar in die Shen-Hammer Pulsdiagnose eingeladen zu werden.
Die Vielfalt der fühlbaren Informationen beeindruckte mich, gleichzeitig entstand ein gewisses Maß an Verwirrung, denn ich hatte weder das Handwerkszeug, noch die Erfahrung, um die von meinen Fingerspitzen ertasteten Informationen in eine anwendbare Behandlungsstrategie umzuwandeln.
Einige Monate später erhielt ich eine Einladung zu einem Seminar für Fortgeschrittene mit Leon selbst. Erst zögerte ich mich anzumelden, und dann zögerte ich noch mehr, als Scott (der Organisator) mich fragte ob ich eine Patientin oder einen Patienten mitbringen könnte. Ich fühlte mich unsicher. Ich war davon überzeugt, dass ich noch nicht genug wusste, um vom „Meister“ zu lernen, und ich war mir sicher, dass ich mich komplett lächerlich machen würde.
Weit gefehlt! Nichts hätte weiter von der sich offenbarenden Wahrheit entfernt sein können: Da war Leon; ein freundlicher, zierlicher älterer Herr in seinen frühen 70ern mit einer sanften und etwas leisen Stimme und einem lustigen, nahezu neugierigen Funkeln in den Augen. Geduldig beantwortete er dieselbe Frage – als hätte er sie noch nie zuvor gehört – mit dem gleichen Interesse gegenüber den Fragenden, wie er es der vorigen Person geschenkt hatte.
Es war beeindruckend, wie viel Aufmerksamkeit alle Teilnehmenden erhielten – ungeachtet des Ausmaßes an klinischer Erfahrung. Es war Leon sichtlich wichtig, dass jedes Individuum in der Lage war zu verstehen, was er zu erklären versuchte – egal, wie lange es dauerte.
Die Betonung darauf “wie“ der Stoff unterrichtet wurde im Gegensatz dazu, sich lediglich darauf zu konzentrieren „was“ vermittelt wurde, war für mich der zentrale Aspekt meiner persönlichen Lernerfahrung mit Leon Hammer. Und dieser Aspekt entwickelte sich zum größten gemeinsamen Nenner in der jahrelangen Zusammenarbeit mit Scott, da uns beiden schnell klar wurde, wie wichtig Didaktik in der Übermittlung umfangreicher Informationen ist.
Mit viel Achtsamkeit für die Wurzeln und die Essenz der Shen-Hammer Pulsdiagnose haben wir die Inhalte priorisiert und vereinfacht, um sie für europäische KursteilnehmerInnen des 21. Jahrhunderts zugänglich und verdaulich zu gestalten.
Diese Entwicklung hat anfangs zu umfangreichen Diskussionen und Konflikten geführt, bis hin zu gelegentlichen „Sendepausen“ in unserer Kommunikation mit Leon. Während der letzten 10 Jahre hat er seine Wertschätzung dafür zum Ausdruck gebracht, dass wir vor allem gemeinsam mit unseren talentierten jüngeren europäischen DRS-KollegInnnen kontinuierlich daran gearbeitet haben, Inhalte zu aktualisieren und maßzuschneidern, so dass sie für ein Seminarpublikum aus verschiedenen Ländern mit einem unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen und professionellen Hintergrund zugänglich wurden.
In der Woche, in der Leon sich vom Leben verabschiedete, kamen zufälligerweise alle europäischen Shen-Hammer-Dozenten zu einem Meeting zusammen, das seit 2014 alle zwei Jahre stattfindet. Im Anschluss an das Zusammensein hatte ich Leon immer ein E-Mail geschickt, um ihm zu berichten, in welchem Land und wo genau wir uns getroffen hatten, wer teilgenommen hatte und welche Themen zur Sprache gekommen waren. Er wusste, dass es immer eine internationale Gruppe von KollegInnen war und auch unsere PartnerInnen, Kinder und Hunde dabei waren. Auch war ihm bekannt, dass YangSheng ein zentraler Aspekt unseres Zusammenseins war und dass unsere dazugehörige Definition von täglichem Qi Gong bis zu gutem Essen und Wein reichte. In den ersten Jahren reagierte er mit freundlichem Interesse und Neugierde zu den Inhalten und den TeilnehmerInnen. In den letzten Jahren verlagerte sich sein Interesse auf die Hunde (Rasse, Alter, Charakter und lustige Eigenheiten). Leon im Zitat: „Sie besitzen das unentbehrliche Bestandteil der Intuition oder aber „die Nase weiß alles“. Diesen Satz hätte ich niemals aus dem großen (Puls-)Buch herausstreichen sollen.“ Und er gab zu, dass er insgeheim gerne an einem dieser „Interfaces“ teilgenommen hätte – vor allem um die Hunde zu beobachten und das Essen zu genießen…
Die Synchronität der Ereignisse Anfang Juli – Leons letzte irdische Tage und unser Treffen – gab uns Kollegen die Gelegenheit um Geschichten zu erzählen, gemeinsame Erinnerungen auszutauschen, unsere Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen und unsere Kräfte in Herz und Geist zu vereinen und ihm als ehemaligen Airforce-Navigator einen ruhigen Flug und eine glatte Landung zu wünschen.
Angelika-M. Findgott
Leon und ich haben uns 2006 kennengelernt; ich war damals Programmplanerin beim englischsprachigen Zweig des Thieme Verlags und für die Komplementärmedizin zuständig. Den Anfang machte sein Buch The Patient-Practitioner-Relationship, das wir beide später immer nur „unser“ Buch nennen sollten, und aus dieser ursprünglich beruflichen Verbindung wurde schnell eine ganz besondere Freundschaft. Mein persönliches Exemplar “unseres” Buches signierte Leon mit den Worten „I am endlessly grateful that a book can bring hearts together as this one has brought ours, my treasure.”
Zehn Jahre später, er hatte inzwischen meinen Programmbereich um ein weiteres Werk bereichert, war es wieder ein Buch, das für uns beide etwas Besonderes war: mein Kochbuch Five Elements in the Kitchen. Recipes from My Friends in Chinese Medicine. Leon hat ein Rezept für ein Zitronenhähnchen ausgewählt; ein Gericht, das er liebend gern gekocht hatte, als er noch jünger war. Für das Kochbuch war ich seine Testköchin, und seine Anweisungen zur Zubereitung waren mehr als übergenau. Als ich ihm dann das PDF seiner Doppelseite zur Druckfreigabe schicken konnte, antwortete er: „Großartig! Ich kann riechen, wie es brutzelt und habe den Geschmack schon auf der Zunge.“ und „ich fühle mich geschmeichelt, weil ein Foto von mir in Deinem Buch ist.“ Ich war so glücklich und stolz darüber, dass Leon Teil meines Buches war und dass er sich so darüber gefreut hat.
Wir konnten uns nicht oft persönlich treffen, aber wir haben telefoniert, und uns regelmäßig geschrieben. Die Themen gingen uns nie aus: Chinesische Medizin, Qi, Natur, Segeln und Paddeln, Reisen, Menschen, Kochen und Essen, Philosophie. Es hat mich immer wieder fasziniert, wieviel Leon wusste und wie offen und fast schon neugierig er war, wenn er einmal etwas nicht kannte.
Einmal schrieb er, dass er in seiner Rolle als Lehrer viel auf die Worte von Antoine de Saint- Exupéry gibt: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Und unser beider Lieblingszitat von Maya Angelou war: „Ich habe gelernt, dass Menschen vergessen, was du gesagt hast, dass Menschen vergessen, was du getan hast, aber sie werden nie vergessen, wie sie sich mit dir gefühlt haben.“
Lebe wohl, lieber Leon, wir werden nie vergessen, wie wir uns mit dir gefühlt haben. Du wirst für immer in unseren Herzen bleiben.
Nicht viele Menschen sind mit einem so langen und erfüllten Leben gesegnet und nur sehr wenige erhalten das Geschenk, in ihrem Leben so viele andere Menschen in allen Teilen der Welt auf so unterschiedliche Art nachhaltig zu berühren.
Auf dem See des Lebens hat Leon auf seine sanftmütige Art und Weise gewaltige Wellen hinterlassen, und wie es bei Wellen so ist, hinterlassen sie eine Resonanz in einer ganz bestimmten Frequenz…